Kurz nach Mitternacht zum Ostersonntag,16. April 1922, Tagungshotel der deutschen Delegation zur Finanz- und Wirtschaftskonferenz von Genua in Nervi, Ligurien, Italien.
Joseph Wirth, Leiter der deutschen Delegation, wird aus dem Schlaf gerissen: das Telefon in seiner Suite klingelt Sturm.
„Das kann nichts Gutes bedeuten! Kann man denn nicht einmal nachts seine Ruhe bekommen? Nach den anstrengenden Verhandlungen des heutigen Tages muss das doch einmal möglich sein!“ knurrt er ärgerlich.
Verschlafen erhebt sich der deutsche Reichskanzler aus dem Bett und schlurft in Pantoffeln zu seinem Telefon.
Am Apparat ist seine rechte Hand, Außenminister Walter Rathenau: „Herr Reichskanzler, gerade hat mich der Sekretär von Außenminister Tschitscherin angerufen. Bedrohliche Nachrichten aus der russischen Delegation! Wir sollen umgehend einen Kooperationsvertag unterzeichnen. Ansonsten wollen die Russen nach der Osterpause separate Verhandlungen mit den Engländern beginnen.“
Wirth atmet schwer: „Verdammt! Das ist Erpressung!“
Schon ein paar Tage vorher war der deutschen Delegation durch italienische Mittelsmänner zu Ohren gekommen, dass Russland nun doch damit liebäugelte, sich auf die Seite der westeuropäischen Führungsmächte zu schlagen.
Monate lange geheime Verhandlungen wären vergebens gewesen! Die geplante Allianz Deutschland und Russlands gegen die Westmächte wäre geplatzt,die Wiedererstarkung des Deutschen Reiches innerhalb des Staatenbundes in Frage gestellt:
Sowohl das Deutsche Reich als auch Russland waren ja aus unterschiedlichen Gründen nach Ende des ersten Weltkrieges innerhalb der europäischen Staaten isoliert geblieben: das Deutsche Reich war aufgrund seiner Schuld am Ausbruch des ersten Weltkrieges im Versailler Vertrag mit erheblichen Strafsummen belegt worden. Russland war nach der russischen Revolution als kommunistischer Sowjetstaat isoliert. Neben der Ächtung durch die anderen europäischen Staaten war dies auch mit starken wirtschaftlichen Konsequenzen verbunden: die Waren beider Staaten wurden europaweit boykottiert!
Deutschland und Russland – von den anderen Staaten heimlich „Habenichtse“ genannt – waren sich deshalb im Prinzip schon einig geworden: Russland erhebt gegenüber dem deutschen Reich keinerlei Anspruch auf Reparationszahlungen mehr, Deutschland erkennt Sowjetrussland dafür im Gegenzug voll diplomatisch an. Beide Staaten vereinbaren enge wirtschaftliche und insgeheim auch militärische Zusammenarbeit.
Reichskanzler Wirth atmet schwer durch:
Das wäre doch ein erster Schritt aus der Isolation und ein weiterer Schritt in Richtung einer Stärkung der Position innerhalb Europas! Für beide Staaten!
Und dieses Ergebnis nach all den geheimen Treffen nun in Frage zu stellen! Das wäre der glatte Wahnsinn! Das muss verhindert werden! Um jeden Preis!
„Rathenau, Sie telefonieren doch sicherlich gerade aus Ihrem Schlafzimmer. Rufen Sie die ganze Delegation zu sich! Ich komme sofort zu Ihnen herüber! Wir müssen umgehend eine Lösung finden!“
„Aber, Herr Reichskanzler, es ist 2 Uhr morgens und ich sitze hier im Pyjama!“ mag der deutsche Außenminister dem noch entgegen gesetzt haben.
Aber es kam doch zu der berühmt- berüchtigten Pyjamakonferenz in den frühen Morgenstunden des Ostersonntags 1922.
Man möge sich das noch einmal vorstellen:der deutsche Reichskanzler, Minister, Staatssekretäre, die ganze deutsche Verhandlungskommission saßen in ihren Schlafanzügen auf Betten,Hockern und Kissen im Schlafzimmer von Außenminister Rathenau und planten Weltpolitik!
Schnell hatte man die Strategie gefunden. Man wollte nun mit einem schnellen und klaren Vertragsangebot die russische Seite seinerseits unter Druck setzen und zum Abschluss der erarbeiteten Geheimabsprachen bringen. Noch am gleichen Tag!
Und so wurde Außenminister Rathenau in Begleitung seines Mitarbeiters von Maltzan in den frühen Morgenstunden zum Hotel Imperial Palace in Rapallo*, in dem die russische Delegation residierte, in Marsch gesetzt.
(„Sie kamen halb lebendig und halb tot zu uns angehetzt,“ sollen die Sowjets später nach Moskau telefoniert haben.)
Innerhalb von sechs Stunden wurde der „Vertrag von Rapallo“ mit der russischen Delegation formuliert und noch am Abend des ersten Ostertages 1922 unterzeichnet.
Natürlich verärgerte dieser Vertrag die Westmächte ungemein: schließlich zeigten die beiden geächteten „Schmuddelkinder“ Europas damit, dass mit ihnen wieder gerechnet werden musste! Das sollte doch eigentlich verhindert werden!
Und tatsächlich: der Wiederaufstieg des deutschen Reiches nach dem verlorenen Weltkrieg hatte mit diesem Vertrag begonnen!
Mit den bekannten Folgen!
Über den Vertrag von Rapallo hatten wir im Geschichtsunterricht gesprochen.Lang, lang ist’s her.Alles vergessen? Nein,nicht alles! Als ich vor einiger Zeit in Rapallo einen Bekannten besuchte, erinnerte ich mich: nicht an die geschichtlich wichtigen Fakten, sondern an die doch zunächst skurril anmutende Pyjama-Geschichte.
Unser auch pädagogisch versierter Geschichtslehrer hatte versucht, bei uns oft uninteressierten Jungen über dieses unwesentliche Detail der „Kleiderordnung“ in jener Nacht Aufmerksamkeit für den geschichtlichen Gesamtzusammenhang dieses Vertrages zu gewinnen.
*Das Hotel Imperial Palace liegt nach einer Gebietsreform heute nicht mehr in Rapallo, sondern in der Gemeinde Santa Margherita Ligure.